Ich wurde neulich in einer Konversation mit einer recht eigenartigen Behauptung konfrontiert: “Immersion alleine bringt dir keine Sprache bei! Ich kenne genug, die seit Jahren in Japan leben und kein Japanisch können!” Steile These und ein durchaus zusammenhangloses Argument.
Wie lernt man seine Muttersprache?
Wenn Immersion alleine keine Sprache beibringen könnte, dann müsste jeder Erinnerungen an seine Kindheit haben, wie er mit Vokabelkarten dasaß, um seine Muttersprache zu lernen. Und obwohl eine gewisse grüne Eule extrem aufdringlich ist, dürften zumindest die meisten mit 4 Jahren Deutsch kaum mit Duolingo gelernt haben.
Du lernst nicht plötzlich anders! Als Erwachsener verlierst du die Fähigkeit, eine Sprache durch Immersion zu lernen, nicht plötzlich. Viele eignen sich durch die Schule nur einen wenig praxisorientierten Lernweg an und wenden sich dadruch von der Immersion ab. Sie denken, dass sie alles wie in der Schule lernen müssen.
Japan bedeutet nicht gleich Immersion
Doch wesentlich erwähnenswerter ist der zweite Punkt. Viele denken, dass sie Immersion nur in Japan bekommen können. In Japan leben wird damit gleichbedeutend mit Immersion. Allerdings ist das nicht der Fall, denn du musst Immersion aktiv suchen. Sie kommt nicht von allein.
Die große Falle: Wer in Japan lebt und nur beim Einkaufen im Kombini oder im Supermarkt Kontakt mit der Sprache hat und sämtliche weiteren Situationen vom Freund oder der Freundin erledigen lässt, dann ist das keine Immersion, selbst wenn man 20 Jahre lang in Japan verbringt.
Immersion bedeutet auch nicht, sich nur von der Sprache berieseln zu lassen. Man muss aktiv mit ihr interagieren und versuchen, sie zu verstehen.
Wie lernen Kinder eine Sprache? Im Gegensatz zu Erwachsenen drängen wir Kindern Immersion auf. Wir lesen ihnen Geschichten vor und zeigen immer wieder auf Gegenstände, während wir deren Namen nennen. Kinder hören sich die gleiche Geschichte auch gerne 30 Mal an … in einer Stunde. Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich jemand in Japan noch diese Zeit für dich nimmt. Immerhin will niemand einen Erwachsenen wie ein Kind behandeln. Es verändert sich also nicht unsere Fähigkeit, durch Immersion zu lernen. Unser Umfeld verändert sich.
Entsprechend musst du selbst das suchen, was dir einst aufgedrängt wurde. Das Erlernen einer Sprache ist ein aufwendiger Unterfangen, da man im Idealfall die Muttersprache nur noch nutzt, um die Bedeutung von japanischen Worten zu erfahren. Hobbies? Solltest du nur noch auf Japanisch machen. Wenn du etwas bei Google suchst, suche auf Japanisch! Wenn du dein Handy benutzt, ist das Menü jetzt auf Japanisch und wenn du es nicht lesen kannst, findest du heraus, wie du es liest!
Das klingt hart, aber es ist letztendlich die Welt, in der Kinder aufwachsen: Sie verstehen nichts, aber jeder in ihrer Umgebung nutzt die selben Worte. Aber gut: Das ist der Idealfall. Ich weiß durchaus, dass die mentale Ausdauer da manchmal einfach nicht mitmacht.
Muss man überhaupt noch lernen?
Wozu brauchst du Grammatik? Streng genommen kannst du das aktive Lernen und auch die Grammatik ignorieren, solange du die Bedeutung von Sätzen erfassen kannst. Das klassische Lernen und auch Dinge wie Vokabelkarten solltest du jedoch nicht als Hürde ansehen. Vielmehr sind es Hilfestellungen, die dir aufgrund deiner Fähigkeiten in einer anderen Sprache Arbeit abnehmen können. Allerdings sollte dir das auch immer bewusst sein: Es ist nur eine Hilfestellung. Es ist nicht die Hauptarbeit.
Das verwechseln auch Lehrbücher und Kurse immer, die dir durch das reine Lernen der Hilfestellung ein Sprachniveau bescheinigen oder zumindest behaupten, dass du damit den entsprechenden Test abschließen kannst. Die eigentliche Hauptarbeit hingegen ignorieren sie fast vollständig und animieren auch so gut wie nie dazu. Zwar bleibt durch das Hören der Sprache einiges hängen, aber eine ausreichende Immersion, um die Sprache wirklich effektiv nutzen zu können, wirst du so niemals bekommen.
Ist jeder Kurs schlecht?
Es gibt natürlich Kurse, die darauf abzielen, die Sprache tatsächlich zu sprechen. Von den ganzen Angeboten, die nach nur wenigen Stunden effektive Sprachfähigkeiten versprechen, will ich hingegen gar nicht erst anfangen. Zumindest dieses Mal nicht. Und Angebote, in denen wirklich die Kommunikation und Anwendung im Mittelpunkt stehen, sind durchaus schonmal sinnvoller, als nur Lehrbücher durchzugehen.
Das gleiche Ergebnis gibt es günstiger: Allerdings bringt auch das nichts, wenn du die Sprache nach Ende der Unterrichtsstunde komplett zu den Akten legst und dann auf die nächste Woche wartest, damit es weitergeht. Denn es ist einfach nicht genug Zeit mit Immersion. Und dann stellt sich die Frage: Wenn du das meiste sowieso selbst machen musst, macht es dann überhaupt Sinn, Geld in einen solchen Kurs zu stecken? Zumal die sich gerade bei Japanisch gerne in etwas höheren Preisklassen bewegen? Schließlich kannst du das selbe oder ein gar noch besseres Ergebnis wesentlich günstiger bekommen.
Vor vielleicht 80 Jahren bot so ein Kurs noch etwas, was du sonst nicht bekommen konntest. Heutzutage, mit Internet, Netflix und Youtube immer in Reichweite, haben sie diesen Nutzen verloren. Und auch die umständlichen Kanji-Nachschlagewerke braucht man heute nicht mehr! Denn mittlerweile kannst du schon in Deutschland besser in die Sprache eintauchen als jemand, der in Japan lebt und seinen Alltag größtenteils auf Deutsch oder Englisch meistert.
Wie viel Immersion ist notwendig?
Maximiere die Immersion: Im Idealfall umgibst du dich mit der Sprache, wo du nur kannst. Aber du kannst auch sehr gute Fortschritte machen, wenn du nur 1 bis 2 Stunden pro Tag dafür findest. Viel mehr als jemand, der 10 Jahre lang in Kurse rennt. Natürlich habe ich das nur zu Forschungszwecken selbst ausprobiert!
Wichtig ist vor allem, dass du täglich mit der Sprache in einem natürlichen Anwendungsbereich zu tun hast und nicht nur 2 Stunden in der Woche. Denn ja: Manchmal sitzt man einfach nur da, ärgert sich über den nächsten Satz mit fünf unbekannten Wörtern und will einfach nicht mehr. Dann bringt es vielleicht mehr, einfach mal wegzugehen. Und am nächsten Tag bist du vielleicht wieder so motiviert, dass du 6 – 8 Stunden dranbleibst. Du musst immer ein bisschen schauen, wie lange du dich konzentrieren kannst.
Wenn also jemand denkt: “Für Immersion muss ich erst nach Japan kommen”, dann stimmt das nicht. Und wenn man schon in seinem Heimatland keine Möglichkeiten zur Immersion findet, dann wird das in Japan kaum anders sein. Denn wenn man sie nicht selbst sucht, wird man sie auch in Japan nicht finden.
Ich bin der Betreiber von Kawaraban und beschäftige mich seit 2007 mit Japan und seiner Sprache.
Ich habe einen Bachelor of Arts in Japanologie erworben und ein Austauschstudium an der Senshu-Universität absolviert.
Seit 2018 lebe ich in Japan und berichte über das Land und mein Leben hier.
Eines meiner Ziele ist es, zukünftigen Generationen bessere Erklärungen zur Sprache zu bieten, als ich sie zur Verfügung hatte.