Die Szene ist aus vielen Filmen bekannt: Zwei Menschen mit verschiedenen Muttersprachen treffen sich in einem Raum. Sie verstehen sich nicht. Nun versuchen sie, die Sprache des anderen zu lernen. Der eine zeigt auf einen Gegenstand und sagt, wie er ihn nennt. Aber ist das wirklich die Art und Weise, wie Entdecker Fremdsprachen gelernt haben?
Dolmetsching der Vergangenheit
Ja und Nein. Es gab solche Situationen. Aber eher selten und nur von kurzzeitig. Meistens lernten die Menschen eine Fremdsprache einfach durch Immersion (Eintauchen in die Sprache), so wie sie als Kinder ihre Muttersprache lernten. Und wir sprechen hier nicht nur vom europäischen Raum, in dem die Sprachen eng miteinander verwandt sind.
Ein Beispiel? Als die ersten Siedler nach Amerika kamen, sprach der erste Ureinwohner, dem sie begegneten – ein Mann namens Samoset – bereits Englisch. Er hatte es sich selbst beigebracht, indem er mit englischen Händlern und Fischern sprach. Er kannte zudem noch einen Mann namens Squanto, dessen Sprachkentnisse die von Samoset überstiegen. Der lernte die Sprache, als er entführt wurde und auf diese Weise nach Spanien und England gelangte. Im Jahr 1619 kehrte er dann in seine Heimat zurück.
Der Einsatz von Gefangenen und Sklaven als Dolmetscher war nicht unüblich. So eroberte Hernan Cortez die Azteken mit Hilfe von La Malinche, einer seiner Sklavinnen, die Spanisch lernte und so als Dolmetscher fungieren konnte. Diese Menschen entschieden sich nicht dazu, zu lernen. Und jene, von denen sie gefangen genommen und zum Unterricht gezwungen worden, sprachen ihre Sprache nicht. Dass es zudem kein Lehrmaterial in ihrer Muttersprache existierte, versteht sich von selbst. Sie kamen einfach in Situationen, in denen sie sich eine Sprache aneignen mussten, um zu überleben.
Selbst als Japan 1868 seine Grenzen öffnete, gab es auf beiden Seiten Menschen, die fließend Japanisch, Niederländisch, Englisch und Chinesisch sprachen. Perrys Dolmetscher zum Beispiel war ein Mann namens Samuel Wells Williams. Er war Sinologe und lernte Japanisch, indem er sich mit Schiffbrüchigen unterhielt. Die Verhandlungsbasis war jedoch Niederländisch, da die Japaner selbst Dolmetscher hatten.
Die Macht der Immersion
Es gibt noch viel mehr historische Belege dafür, wie gut Immersion funktioniert. So lernte Thomas Jefferson nur mit Hilfe des Romans Don Quijote und einer Grammatik Spanisch, als er 1764 nach Frankreich reiste. John Quincy Adams dokumentierte dies 1804 in seinem Tagebuch, nachdem er mit Jefferson zu Abend gegessen hatte.
Die spanische Sprache war so einfach, dass er sie mit Hilfe eines Don Quijote, den ihm Herr Cabot geliehen hatte, und einer Grammatik auf seiner Reise nach Europa in nur 19 Tagen auf See erlernte.
Monticello
Auch Augustinus von Hippo schrieb in seinen “Confessiones” über seine erfolgreichen Bemühungen, eine Fremdsprache zu erlernen. Das Werk wurde in den Jahren 397 bis 401 n. Chr. verfasst und beschreibt das, was wir heute als Immersion bezeichnen.
Ich lernte all dies, ohne durch irgendeinen Druck der Strafe gedrängt zu werden, denn mein eigenes Herz drängte mich, seine eigene Gestaltung hervorzubringen, was ich nicht tun konnte, außer indem ich Worte lernte: nicht von denen, die mich lehrten, sondern von denen, die mit mir sprachen, in deren Ohren ich ausgießen konnte, was ich gestalten konnte.
Die Bekenntnisse
Der klassische Unterricht: Immersion statt Übungen
Keine Übungen: Man kann noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen und sich anschauen, wie zum Beispiel die Griechen Latein gelernt haben. Dort gab es keine Lückentexte und keine Aufgaben, bei denen man die richtigen Wörter finden musste, um einen abgekapselten Satz zu vervollständigen. Stattdessen stand das Übersetzen im Mittelpunkt.
Die Lerner erhielten zusammenhängende Texte in zwei Sprachen, die vor allem Alltagssituationen beschreiben. Auf der einen Seite befand sich das Original, auf der anderen Seite eine Übersetzung. Daneben lernten sie vor allem Vokabeln und Grammatik.
Ein traditioneller Weg: Man ging also schon damals so vor, wie ich es auch in meinem Leitfaden empfehle. Nur sind Übersetzungen im Japanischen weniger geeignet, um die Eigenheiten der Sprache zu erkennen. Aber dafür gibt es ja Wörterbücher. Griechisch und Latein sind jedoch viel näher verwandt und besitzen eine sehr ähnliche Grammatik, weswegen es dort ein legitimer Ansatz war.
Außerdem wurde immer versucht, so schnell wie möglich zu einsprachigen Texten überzugehen, was sich stark von dem modernen Ansatz unterscheidet, bei dem man auch nach Jahren des Lernens noch mit Übungen und Erklärungen in einer Sprache konfrontiert wird, die man bereits beherrscht.
Mehrsprachigkeit ist keine Seltenheit
Die Ursprache: Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der bei der Übersetzungsfähigkeit eine Rolle spielt. Sehr viele Sprachen lassen sich auf das Proto-Indoeuropäische zurückführen. Dadurch gibt es starke Ähnlichkeiten, die es leicht machen, eine andere Sprache zu verstehen, auch wenn man sie nicht gelernt hat. Denn wir Menschen sind dazu veranlagt, immer nach Mustern und Ähnlichkeiten zu suchen.
Mehrsprachige Gesellschaften: In vielen Regionen wurden auch einfach mehrere Sprachen gleichzeitig gesprochen, so dass ein Großteil der Menschen einfach mehrsprachig aufwuchs. Für Griechen und Römer beispielsweise war die Sprache des jeweils anderen sehr wichtig. So sehr, dass römische Autoren sie utraque lingua nannten: “unsere beiden Sprachen”. Und das ist nur ein Beispiel für eine solche Gesellschaft.
Lehren für moderne Lerner
Moderne Fehleinschätzung: Heutzutage ist es für viele Menschen schwer vorstellbar, eine Sprache außerhalb eines Klassenzimmers zu lernen. Deshalb wird oft so getan, als seien Entdecker und ähnliche Menschen, die eine Fremdsprache ohne Anleitung lernen, absolute Genies und Überflieger. Das ist aber einfach nicht der Fall. Im Gegenteil: Viele der effektivsten Sprecher wurden durch äußere Umstände dazu gezwungen, eine weitere Sprache zu erlernen.
Im antiken Schulsystem hingegen war man nicht so sehr auf Theorie und einfache Übungen fixiert, sondern verfolgte einen viel organischeren Ansatz, um eine Sprache zu vermitteln. Und wie man sieht, war dieser Ansatz erfolgreich. Während in der heutigen Zeit gerade die Lerner von exotischeren Sprachen wie Japanisch große Probleme haben, wenn sie diesen Weg nicht nutzen.
Immersion funktioniert immer! Aus diesen Tatsachen lässt sich vor allem eine Schlussfolgerung ziehen: Jeder Mensch kann eine Sprache lernen, wenn er sich mit ihr umgibt. Das ist auch der natürlichste Weg. Und jeder, der nur seine Muttersprache spricht, hat ihn bereits genutzt.
Ich bin der Betreiber von Kawaraban und beschäftige mich seit 2007 mit Japan und seiner Sprache.
Ich habe einen Bachelor of Arts in Japanologie erworben und ein Austauschstudium an der Senshu-Universität absolviert.
Seit 2018 lebe ich in Japan und berichte über das Land und mein Leben hier.
Eines meiner Ziele ist es, zukünftigen Generationen bessere Erklärungen zur Sprache zu bieten, als ich sie zur Verfügung hatte.
le ARiTe says:
Sehr guter Artikel! Oft in meinem Leben, im Umgang mit Anderssprachigen, habe ich mir genau diese Frage gestellt!