(Quelle Teaserbild Sangaku: Wikimedia Commons, Original bearbeitet)
Religiöse Opfergaben können vielfältig sein. Von den berüchtigten Menschenopfern der Kelten bis hin zu einfachen Spenden an die Kirche ist vieles möglich. In der Religion Japans gibt es eine ganz besondere Art der Opfergabe: Sangaku genannte mathematische Probleme.
Übersetzt bedeutet der Begriff ganz einfach “Mathematische Tafel”. Bei diesen doch recht einzigartigen Darbietungen an die Götter handelt es sich um geometrische Probleme, die die Japaner während der Edozeit an shintoistischen und buddhistischen Tempeln darbieten. In Deutschland spricht man hierbei auch von “Japanischer Tempelgeometrie”. Doch was steckt genau dahinter?
Intellektuelle Herausforderung
Sangaku sind bemalte Holztafeln, auf denen mathematische Probleme abgebildet sind. Die stammen zum größten Teil aus dem Bereich der Geometrie im zweidimensionalen und dreidimensionalen Raum. Die Tafeln werden unter den Dächern von buddhistischen Tempeln und shintoistischen Schreinen aufgehängt.
Hier findest du jedoch nicht die die üblichen, aus dem Schulunterricht bekannten Fragen, wie in Deutschland. Stattdessen zeigen die Tafeln meist die Problemstellung und das Ergebnis. Der Lösungsweg hingegen bleibt verborgen, wodurch jeder Besucher des Schreins oder Tempels selbst versuchen kann, diesen zu finden.
Die Tafeln sollen die Gläubigen den Göttern als Dank dargeboten haben. Gleichzeitig soll die Abwesenheit jeglicher Beweisführung eine implizierte Herausforderung an andere Reisende darstellen. Zwar gab es nie eine entsprechende Aufforderung, die Rätsel zu lösen, allerdings wurde die Darstellung nach genau diesem Motto interpretiert: “Finde heraus, ob du diese Lösung beweisen kannst!”
Die Probleme reichen dabei von einfachen Aufgaben für Grundschüler, bis hin zu fast unlösbaren Problemen, an denen sich heutige Mathematiker mit modernsten Methoden die Zähne ausbeißen. Hier kann also jeder ein für ihn angemessenes Rätsel ausfindig machen.
Ein paar Beispiele
(Quelle: Wikimedia Commons, Original verändert)
In guter alter Sangaku-Tradition habe ich mal einige Beispiele herausgesucht. Allerdings bin ich etwas weniger subtil als die Tafeln selbst und fordere dich direkt heraus, die hier gestellten Probleme zu lösen!
- Eine runde Straße A hat einen Radius von 48 Kilometer und berührt am Punkt P eine weitere runde Straße B mit einem Radius von 32 km. Eine Kuh und ein Pferd laufen respektive die Straße A und B von Punkt P aus entlang. Die Kuh läuft 8 Kilometer pro Tag und das Pferd 12 Kilometer pro Tag. Nach wie vielen Tagen treffen sich Kuh und Pferd wieder an Punkt P?[1]
Lösung
20.000 Tage beziehungsweise 54,75 Jahre nachdem die Tiere loslaufen, treffen sie sich wieder.
- Zwei Kreise mit dem Radius r befinden sich auf einer Linie l. Ein Quadrat mit der Seitenlänge t berührt beide Kreise. Finde heraus wie groß t in Abhängigkeit zu r ist.[2]
Lösung
t = 2r/5
- Ein equilaterales Dreieck mit der Seitenlänge t, ein Quadrat mit der Seitenlänge s und ein Kreis berühren sich innerhalb eines rechtwinkligen Dreiecks ABC mit der Kathete a. Berechne l in Abhängigkeit zu a.
Lösung
t = (√3-1)a
Wenn du noch mehr Rätsel suchst, dann kannst du der Webseite Wasan einen Besuch abstatten. Die hat eine ganze Reihe der Aufgaben online veröffentlicht. Dort findest du ganze fünf PDF-Dateien mit zahlreichen Fragen, Lösungen sowie Herleitungen dieser. Insgesamt ist das komplette Werk 185 MB groß.
Schneller als der Westen
Die Tafeln beweisen ebenso, dass Japan einige wichtige mathematische Erkenntnisse bereits lange vor dem Westen erlangen konnte. Das beweist das stets auf den Sangaku-Tafeln eingravierte Datum. Denn einige der abgebildeten Probleme machen von Wissen gebrauch, das außerhalb Japans erst wesentlich später dokumentiert wurde.
So ist beispielsweise der Satz von Casey, der beschreibt wie sich die Tangentenabschnitte von vier Kreisen zueinander verhalten, dem japanischen Mathematiker Chochu Siraishi bereits im Jahr 1820 bekannt und ist zudem ein Problem eines Sangaku, das man 1874 in der Gunma-Präfektur entdeckt.
Wo kommt Sangaku her?
Quelle: Pixabay
Während der Edo-Zeit von 1603 bis 1867 ist Japan bis auf wenige Ausnahmen fast vollständig vom Rest der Welt isoliert. Dadurch existieren so gut wie keine westlichen Einflüsse auf die Kultur des Landes.
In dieser Zeit entsteht hier eine – zu großen Teilen – komplett eigene Mathematik-Tradition. Denn trotz der Isolation Japans gelangt über China dennoch Wissen aus dem Westen in das Land, wie der Sangaku-Experte Hidetoshi Fukagawa erklärt.
Bereits vor dem Auftreten von Sangaku ist es üblich, Holztafeln mit Bildern eines Opfertiers an Tempeln und Schreinen zu hinterlassen, wenn man weder Geld noch echte Tiere entbehren kann. Diese Tradition stellt den Beginn von Sangaku dar. Denn sie entwickelte sich zu dem Brauch weiter, mathematische Probleme auf diesen niederzuschreiben.
Hobby in allen Kasten
Die ursprünglichen Erschaffer der Tempelgeometrie sind unbekannt. Jedoch soll dieser Brauch zunächst in der Samurai-Klasse Japans entstanden sein, unter denen sich in absteigender Hierarchie noch die Stände der Bauern, Handwerker und Händler befanden. Erst später verbreitet sich der Brauch auch unter diesen und kann sogar Jugendliche für sich gewinnen.
Ein großer Trend sollte es allerdings nie werden. So geht Alexander Bogomolny – Professor Emeritus für Mathematik an der Universität von Iowa – davon aus, dass in der Zeit der Isolation Japans etwa 155 Tafeln pro Jahr entstehen. Diese Schätzung basiert auf den Berichten von Kazan Yamaguchi, der sechs Reisen durch das gesamte Land auf der Suche nach den interessanten Werken unternahm.
Gegen Ende der Zeit von Sangaku tauchten zudem zahlreiche Plagiate in den verschiedensten Regionen auf. Dadurch mutmaßt man, dass sie sich nur durch einzelne Wanderer, oder maximal durch wandernde Schulen verbreitet haben.
Das älteste bekannte Problem verfolgen Wissenschaftler bis zum Jahr 1657 zurück. Die erste Sangaku-Sammlung hingegen ist auf den japanischen Mathematiker Fujita Kagen zurückzuführen, der diese in zwei Werken zusammenträgt: dem Shimpeki Sampo von 1790 und dem Zoku Shimpeki Sampo von 1806.
Sangaku in der Moderne
Sangaku ist ein relativ junges Forschungsthema, das auf den ungefähr 820 Tafeln basiert, die heutzutage noch bekannt und im gesamten Land verteilt sind. Die verlinkte Karte zeigt dir, wo entsprechende Tafeln noch existieren.
Denn es haben bei weitem nicht alle überlebt. Viele wurden im Laufe der Zeit gemeinsam mit den Tempeln, in denen sie aufbewahrt wurden, zerstört.
Eine Schwierigkeit beim Verständnis dieser ist die Sprache: sie wurden nicht auf Japanisch verfasst, sondern auf Kanbun. Dabei handelt es sich um eine Art Japanisch, das komplett mit chinesischen Zeichen und Grammatik verfasst wird. Für Japaner liest sich das in etwa so wie für uns Latein und bereits zur Zeit als die Sangaku verfasst werden, sind nur wenige in der Lage, diese zu lesen.
Zudem gibt es ein weiteres, besonderes Problem: da sich diese Form der Mathematik unabhängig von den westlichen Methoden entwickelt, ist das Skript ganz anders aufgebaut, als aus der modernen Mathematik bekannt. Dadurch können heutzutage nur wenige Menschen Sangaku verstehen.
Der größte Experte für die Tempelmathematik
Einer von ihnen ist der heutzutage als Sangaku-Experte bekannte Hidetoshi Fukagawa. Er erlernte seines Zeichens selbst die Sprache der Tafeln und versucht bereits seit 1969, die Tempelgeometrie als Forschungsgebiet voranzutreiben.
Er selbst lehrte 37 Jahre lang Mathematik in der Oberschule und gibt seit 2004 Teilzeit-Kurse an diversen Universitäten rund um Lehrmethoden für Mathe. Er selbst wurde erstmals auf Sangaku aufmerksam, als er Material suchte, um seine Schüler für das Fach zu interessieren.
Er würde schließlich in einem Mathebuch aus der Edo-Zeit fündig. Lange Zeit maß man diesen Werken wenig Bedeutung bei und glaubte, dass sich ihnen nur sehr grundlegendes Wissen finden lässt. Er fand jedoch heraus, dass man auch in Japan zu dieser Zeit durchaus Verständnis von komplexeren Elementen hatte, ohne entsprechendes Wissen aus dem Westen zu besitzen.
Danach fing er an, traditionell japanische Mathematik zu erforschen. In einem dieser Werke wurde er schließlich auf “Tafeln mit mathematischen Problemen”. Das weckte sein Interesse und er machte eine der Tafeln innerhalb seiner Präfektur ausfindig.
Unbekannt waren die Tafeln keineswegs. Historiker berichteten bereits zuvor über sie. Allerdings konnten sie diese wegen mangelnder Mathematikkentnisse nicht enziffern. Entsprechend wurden die Tafeln nur als kulturelles Erbe aufbewahrt, ohne dass man ihren Nutzen erkannte.
Gebiete für die Anwendung sieht er – wohl gerade aufgrund seiner Vergangenheit als Mathelehrer – unter anderem im Schulunterricht. Durch seine Zusammenarbeit mit dem britischen Mathematiker Daniel Pedoe veröffentlicht er zudem 1989 die erste Sammlung dieser Probleme im Westen und er konnte dieser Thematik dadurch wesentlich mehr Aufmerksamkeit verschaffen.
Sangaku als Spiegelbild der Kultur?
Bei Sangaku handelt es sich also nicht nur um einen religiösen Aspekt, sondern eine noch in der Moderne nützliche Praxis, die viel zu selten Erwähnung findet. Wenn du mehr erfahren willst, dann kannst du dich hier auch direkt zur Religion Japans im allgemeinen erkundigen, und wie sie mit dem Alltag verschmilzt.
Du solltest jedoch nicht den Fehler machen und davon ausgehen, dass Sangaku ein Massenphänomen war. Denn derartige Probleme ziehen sich stets durch die Berichterstattung von Japan: Einzelne interessante Aspekte werden oft so weit aufgeblasen, bis darin ein Spiegelbild des gesamten Landes gesehen wird. Mehr darüber erfährst du in dem folgenden Artikel.
Literaturnachweis
[1] Hidetoshi F., Rothman T.: “Sacred Mathematics – Japanese Temple Geometry”, Princeton University Press, 2008, S. 92
[2] Hidetoshi F., Rothman T.: “Sacred Mathematics – Japanese Temple Geometry”, Princeton University Press, 2008, S. 95
[3] Hidetoshi F., Rothman T.: “Sacred Mathematics – Japanese Temple Geometry”, Princeton University Press, 2008, S. 99
Ich bin der Betreiber von Kawaraban und beschäftige mich seit 2007 mit Japan und seiner Sprache.
Ich habe einen Bachelor of Arts in Japanologie erworben und ein Austauschstudium an der Senshu-Universität absolviert.
Seit 2018 lebe ich in Japan und berichte über das Land und mein Leben hier.
Eines meiner Ziele ist es, zukünftigen Generationen bessere Erklärungen zur Sprache zu bieten, als ich sie zur Verfügung hatte.
ingo says:
Richtig schöner Artikel!